Putin fühlt sich im Recht Eine strategische Analyse

Leider ist die aktuelle Situation noch viel verfahrener als es den Anschein hat. Denn Putin fühlt sich im Recht. Wenn es eine wirkliche Konstante gibt in der russischen Staatsräson über viele Jahrhunderte hinweg, bis weit in die Zarenzeit zurück, dann das tief verinnerlichte Verständnis: Das slawische Volk, und ganz besonders das russische, verträgt die Freiheit nicht und muss, zu seinem eigenen Besten, mit harter Hand geführt werden. Putin hat ausführlich begründet, warum er aus kulturellen Gründen die Ukraine mit in dieses Verständnis einschließt. Slawen und Freiheit, das ist in der Sicht Putins ein natürlicher Widerspruch in sich. Allein die beiden Begriffe in einen gemeinsamen Zusammenhang zu bringen ist ihm ein Gräuel (dieses Wort ist hier sehr bewusst verwendet). Nun wird klar, welchen entsetzlichen, unverzeihlichen Frevel die Ukraine in seinen Augen begangen hat. Ein slawisches, nein, sogar: ein quasi russisches Volk, welches sich zur Freiheit berufen fühlt? Das darf nicht sein. Das kann nicht sein. Das widerspricht allem Verständnis, auf dem das gesamte russische Staatswesen aufbaut. Deshalb ist jedes Mittel recht und heilig, um diese grausame Aberration zu beenden. Es ist notwendig, um das russische System, das russische Vaterland zu schützen und vor Schaden zu bewahren. Ich glaube, das ist wie er die Welt sieht, und weshalb er handelt, wie er bis jetzt gehandelt hat.

Und wer weiß, vielleicht ist an dieser Sichtweise sogar tatsächlich ein Kernchen Wahrheit. Es gibt schließlich nicht nur die westliche Weltsicht, die sich aus der Aufklärung und der Überzeugung speist, das Wichtigste sei letztlich das Individuum, und dessen freies Handeln. Vielleicht wird ja die langfristige geschichtliche Entwicklung in der Zukunft stärker von der östlichen Weltsicht geprägt werden, nach der das Individuum gar nichts ist, das Kollektiv aber alles. Denn: was zählt schon die einzelne Ameise, die einzelne Biene, wenn es um den ganzen Staat, den ganzen Stock geht? Man wird nicht abstreiten können, dass auch diese Perspektive eine gewisse Berechtigung hat.

Nur, der Gegensatz bietet leider so gar keinen Raum für einen möglichen Kompromiss. Insoweit erinnert die Gesamtsituation irgendwie fatal an die Konfrontation zwischen Nord- und Südstaaten am Vorabend des amerikanischen Sezessionskrieges. Auf der einen Seite die Abolitionisten, die nicht anders können, als für ihre Überzeugung einzustehen, dass jeder Mensch mit gleichen Rechten auf die Welt kommt. Und auf der anderen Seite die Südstaatler, welche nicht von ihrem ebenfalls als gottgegeben betrachteten Recht lassen wollen oder können, Sklaven zu halten (auch weil es -nebenher- für das damalige Wirtschaftssystem des Südens schlicht unvorstellbar erscheint, die praktizierte Form der Plantagenwirtschaft ohne Sklaven betreiben zu wollen). Im Kern ist dies genau der aktuelle Konflikt. Eine Seite sagt, in meiner Einflusszone ist Gewalt und Unterdrückung ein legitimes Mittel, und wenn die Menschen nicht freiwillig gehorchen, dann muss eben die Knute dafür sorgen. Die andere Seite sagt, Versklavung können und werden wir nie wieder zulassen.

Der Westen halte sich hier jedoch sehr weit fern von jedem Gefühl moralischer Überlegenheit. Er hat hinlänglich oft bewiesen, dass er in der Disziplin des Wegschauens und Ignorierens über eine große Meisterschaft verfügt, auch wenn das entsetzlichste Leid geschieht, irgendwo auf dieser Welt oder auch im Westen selbst. Hätte Herr Putin seine Aggression an anderer Stelle verübt, sagen wir in einem der „-stans“, dann würde ich fast sicher darauf wetten, dass der Westen zwar verhalten protestiert hätte, aber ansonsten sehr schnell wieder zur Tagesordnung übergegangen wäre. Insoweit war das strategische Kalkül Putins so schlecht und aussichtslos nicht. Im vorliegenden Fall der Ukraine steht dieser Weg jedoch nicht mehr zur Verfügung, und das weiß Putin ganz genau. Er weiß, dass der Westen (und der Rest der Welt) in seinem europäischen Vorgarten eben diesmal hingeschaut hat. Er weiß, dass innerhalb von nur einer Woche Krieg in den Herzen des Westens eine so tiefe und unzerstörbare emotionale Bindung an die Menschen in der Ukraine entstanden ist, dass der Westen hier jetzt nicht mehr weichen kann, und nicht mehr weichen wird.

Wie der amerikanische Bürgerkrieg ausgegangen ist, ist bekannt. Da die Geschichte immer von den Siegern geschrieben wird, erscheint es uns heute als absolut selbstverständlich, dass die Versklavung von Menschen ein himmelschreiendes Unrecht darstellt, das niemals zu akzeptieren ist. Jedoch zeigt die Geschichte der Menschheit auch, die Perioden mit Sklaverei sind insgesamt viel länger als die Perioden ohne. Der Mensch (als Spezies) ist leider ein ziemlich dummes Tier (einzelne Ausnahmen bleiben außer Betracht). Vielleicht ist es ja wirklich besser, wenn dieses dumme Tier zu seinem eigenen Wohl an den Nasenring genommen und von einer weisen, gütigen Führung gelenkt wird, statt selbst kopflos durch die Unbilden der Welt stolpern zu müssen. Als Westler werde ich dem natürlich entschieden widersprechen, aber wie schon gesagt: es gibt nicht nur die Sicht des Westens.

Es bleibt sehr zu hoffen, dass der Sklaverei-/Freiheitskonflikt nicht erneut zu einem noch blutigeren, noch fataleren Krieg führt als zwischen 1861-1865 bereits schon einmal. Wie gesagt, wie die Weltsichten hier aufeinanderprallen, lässt leider wenig Raum und Hoffnung für eine Einigung im Guten.

Sehr wahrscheinlich ist die Annahme, dass Herr Putin bei allem strategischen Über- und Weitblick im Moment genauso in einer emotionalen Ausnahmesituation und Überforderung steckt wie wir alle, oder sicherlich sogar noch sehr viel mehr. Ein solcher Zustand ist keine gute Voraussetzung für ein Durchdenken und Reflektieren oder des kühlen Fassens neuer, der veränderten Situation angemessener Pläne. Harari hat in seinem großartigen Buch „Homo Deus“ unter anderem den (typisch menschlichen) Affekt der italienischen Kriegspartei im 1. Weltkrieg beschrieben. Weil die ca. 15.000 italienischen Opfer einer Schlacht am Fluss Isonzo im Sommer 1915 „nicht umsonst gestorben“ sein durften, folgten in den Folgejahren bis 1917 insgesamt 11 weitere Schlachten an fast derselben Stelle, mit Gesamtverlusten von mehr als einer Million Soldaten, wobei dies alles für den übrigen Verlauf und Ausgang des 1. Weltkriegs keinerlei Bedeutung hatte. – Der bisher angerichtete Schaden in der Ukraine und in und für Russland ist bereits irreparabel. Es wird aber ab jetzt auch nicht mehr besser werden, sondern immer nur noch viel schlechter, wenn es weitergeht. Geben wir Herrn Putin soviel Zeit und Ruhe in einem Waffenstillstand, wie er zur nüchternen Analyse der Lage und zum klaren Nachdenken braucht. Ein Prüfen aller Fakten kann nur zum Ergebnis führen, dass das alles für Russland nicht mehr zu gewinnen ist, und dass er selbst mit seiner Clique nicht im Amt oder auch nur im Lande bleiben kann. Den Männerfreund Lukaschenko sollte er dabei besser gleich mitnehmen, wenn ihm denn tatsächlich an dessen Gesellschaft gelegen sein sollte. China wäre womöglich willens und in der Lage, beiden nach einer Flucht Bleibe und den notwendigen dauerhaften Schutz zu gewähren. Es wird lange dauern, bis Russland wieder an die Reputation anknüpfen kann, und wieder das Vertrauen seiner Nachbarn genießt, so wie es diesem eigentlich großartigen Land eigentlich zukommt. Das Beispiel „Europäische Einigung“ und die Anerkennung der Bundesrepublik als Partner und Freund durch alle Nachbarn nach dem 2. Weltkrieg zeigt: es ist möglich, auch wenn es aktuell so unwahrscheinlich scheint.

Ich möchte allerdings doch mit einem positiven Gedanken schließen. Der Ausbruch des amerikanischen Bürgerkriegs war nicht naturgesetzlich vorgegeben. Es gibt in dieser Zeit tatsächlich auch Beispiele, wie der Konflikt relativ friedlich und erfolgreich überwunden werden konnte. Wer sich anschauen möchte, wie das gelungen ist, der möge beispielsweise die Geschichte der Insel Mauritius studieren. Im frühen 19. Jahrhundert noch unter französischer Herrschaft stehend, schien der damals (wie heute noch) dominante Zuckerrohranbau ohne flächendeckenden Sklaveneinsatz überhaupt nicht vorstellbar. Dann eroberte 1810 Großbritannien die Insel und machte es zu seiner Kolonie. In Großbritannien allerdings war die Sklavenhaltung bereits abgeschafft. Wie aber konnte die Zuckerrohrproduktion als vorrangigste Einkommensquelle weiter aufrechterhalten werden? Die Lösung waren Kontraktarbeiter aus Indien, die zu Tausenden ins Land geholt wurden (und deren Nachkommen bis heute einen sehr hohen Anteil an der Bevölkerung ausmachen). Diese Arbeiter erledigten für einen lächerlich geringen Lohn quasi dieselbe Arbeit wie vor ihnen die Sklaven, und sie lebten unter ähnlich primitiven Bedingungen. Aber: sie machten das freiwillig und ohne Zwangsandrohung durch Gewalt. Mauritius ist bis heute eines der friedlichsten und zivilisiertesten Länder im gesamten südlichen Afrika.

Bert Miecznik, 4.3.2022

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